In der „Presse“ räsoniert ein vermeintlicher „Vordenker der Konservativen“ (Phillip Blond – witzigerweise der Stiefbruder vom aktuellen James Bond) über das Versagen von Rechten und Linken, mit ihren traditionellen Welterklärungsmustern die aktuelle Krise zu begreifen, geschweige denn lösen zu können; völlig zurecht meint Blond, dass die Realität die Politikkonzepte überholt hat. Im „Standard“ analysiert der österreichische EU-Beamte Thomas Wieser die Schuldenproblematik als Ergebnis idiotischer Versuche, die bitteren Konsequenzen der „Globalisierung“ zu leugnen und sieht die einzige Lösung für die europäischen Staaten, in „Bildung und Infrastruktur“ zu investieren.
Die beiden ergänzen sich, und greifen auch gemeinsam zu kurz. Wieser hat recht, dass die private und staatliche Verschuldung der letzten Jahrzehnte dazu diente, reale Einkommensverluste zu kompensieren und dass nur aus einem Eingestehen dieser Tatsache auch konstruktive Veränderung möglich sein wird. Auf diese scharfsinnige Analyse folgt jedoch eine plumpe Politik-Empfehlung, (womit er wohl das Dilemma der aktuellen EU-Bürokratie hübsch veranschaulicht: kluge Beamte liefern kluge Analysen, sind jedoch überfordert, wenn sie von versagenden Politikern auch noch die Politikgestaltung übernehmen sollen.) „Globalisierung“ ist eine mächtige Chiffre, um große ökonomische Strukturenwandel der letzten Jahrzehnte anzuzeigen; wenn sie jedoch nur als Eroberung von Low-Tech, Low-Income-Industriezweigen durch „Emerging Markets“ verstanden wird, der dementsprechend mit Eroberung von High-Tech, High-Income Segmenten begegnet werden müsse, dann geht die Chiffre bereits an der Realität vorbei: die chinesische Solarindustrie hat gerade erfolgreich die europäische begraben und rollt gerade die Netzwerkindustrie auf, in Indien arbeiten mehr Programmierer als in Europa; diese Volkswirtschaften sind nicht mehr als werkbank, als Arbeitskraft-Exporteure zu begreifen. Daher ist es trügerisch zu glauben, dass die Konkurrenten auf den Weltmärkten ungebildete Billigarbeitskräfte sind, die mit ein bisserl Spezialausbildung zu besiegen wären.
Ebenfalls im Standard (Album) schrieb Bert Rebhandl eine Analyse des gegenwärtigen Strukturwandels der Medienwelt – Krise klassischer Printmedien, Einstieg von Internet-Tycoons in renommierte Zeitungsverlage – skizziert er aufmerksam und vorsichtig mögliche Landschaften der Zukunft. Es ist diese Zurückhaltung, das Vermeiden voreiliger Schlußfolgerungen, die Aufmerksamkeit gegenüber verstreuten, scheinbar zusammenhanglosen Ereignissen, die mir auch für die Analyse globaler ökonomischer Veränderungen und möglicher politischer Antworten vorbildlich erscheint. Die Parallele? Rebhandl befasst sich mit der Interaktion von etwas, das offenkundig gut funktioniert – Internet, Google, Amazon.. – und etwas, das offenkundig kriselt – klassische Tageszeitungen und Verlage – und fragt, was an dem klassischen überleben wird, von dem funktionierenden womöglich dringend gebraucht wird. Diese Fragehaltung, angewandt auf die Themen von Wieser und Blond, wäre ganz und gar nicht trivial und eröffnet neue Perspektiven: statt stur davon auszugehen, dass das bestehende – die Politik, Europa – zu bewahren sei und unverdrossen Mechanismen zu erfinden, wie es reformiert werden könne, wäre eine primäre Frage: muss es denn überleben? Und was daran ist eigentlich das zu Bewahrende? Das Zukunftsträchtige?
Grundlagen: die EU wird nicht mehr lange der größte Wirtschaftsraum der Welt sein – angesichts der Trends des Bevölkerungswachstums und des langfristigen Wirtschaftswachstumss wird Asien sehr bald relativ reicher sein. Die europäische Erfahrung der Nachkriegsjahrzehnte von raschem Wachstum und allgemeiner Wohlstandsmehrung sind eine Erinnerung, keine Naturgegebenheit, keine Selbstverständlichkeit, kein Auftrag.
Die Vorstellung, dass die europäischen Staaten „wettbewerbsfähiger“ auf den globalen Märkten sein müssen, ist daher absurd. Das ist eine von der Realität überholte merkantilistische Fantasie. Die Realität ist eine ganz andere; nicht „die EU“ tritt auf dem Weltmarkt in Konkurrenz mit anderen Produzenten; sondern die EU selbst differenziert sich arbeitsteilig; insofern sind die verschuldeten griechischen Konsumenten deutscher Industrieerzeugnisse nicht eine Verfehlung, sondern gerade Boten einer gelungenen Arbeitsteilung. Das mag milchmädchenrechenunlogisch sind, im Verständnis volkswirtschaftlicher Zusammenhänge jedoch tragfähig und plausibel. Es ist dies eine lokale Ausformung dessen, was der britische Wirtschaftshistoriker Niall Fergusson für das Zusammenwirken von China und USA als „Chimerica“ genannt hat: ein symbiotischer Austausch von Waren- und Geldströmen, die USA kaufen chinesische Waren und nehmen dafür bei den Chinesen Schulden auf. Das ist nicht labiler wie andere internationale Gleichgewichte. Auf die europäische Staatsschuldenkrise antworteten die Rechten (und die Deutschen), dass die verschuldeten „Peripherie“-länder ebenso „produktiv“ wie die deutschen werden müssten, also Löhne runter; die Linken (also die Franzosen) argumentierten, die Deutschen müssten mehr konsumieren, also Löhne rauf. Warum bloß dieses Wirklichkeitszurechtbiegenwollen? Warum sollen alle europäischen Volkswirtschaften gleich werden? Was für ein seltsames Alle-gleich-machen-Wollen. Warum nicht die Unterschiedlichkeit hin- und als Vorzug nehmen?
Es geht hier um eine Fantasie dessen, was „Europa“ ist; die Fantasie der EU zielte immer auf den Vergleich mit anderen Wirtschaftsräumen; niemand wollte denken, dass „Europa“ selbst ein vollständiger Wirtschaftskosmos ist. Das ist blöd und widerspricht der Realität – nämlich auch der globalen. Auch Asien ist nicht ein homogener Raum von billigproduzierenden, exportorientierten Industrien, sondern entwickelt sich rasant zu einem hochdifferenzierten Raum, in dem China zunehmend Abnehmer statt Erzeuger von Billigprodukten ist.
Bernd Rebhandl fragt, was eigentlich die Funktion von Tageszeitungen, großen Namen wie Washington Post, sei, und zur Antwort gibt: nicht die Information, nicht die Qualität, weil diese sind im Internet überall zugänglich, sondern ein System von Glaubwürdigkeiten und ein Angebot von Ordnung, also gewissermaßen eine Kultur.