Das Ende der Illusion vom stetigen Wirtschaftswachstum
Im Jahrzehnt seit Einführung des Euro wuchs das BIP im Euro-Raum um magere 1,1% – die Krise hat fast alles an Wachstum der Jahre davor rückgängig gemacht. Der Hinweis auf die Schwere der Krise übersieht die strukturelle Ursachen sowohl für mageres Wachstum davor als auch für Stagnation seitdem: die alternden Volkswirtschaften Europas mit ihren von Ansprüchen erstickten politischen Systemen können kaum noch Wachstum generieren.
Statt Politik als Verteilung imaginären Wohlstands zu verstehen, sollte die Einsicht in die Magerkeit der realen Möglichkeiten eine konsequente Fokussierung auf das wirtschaftlich Sinnvolle erzwingen – und somit wieder Politik als Gestaltung von Zukunft erlauben.
Dieses lahmende Wachstum ist die strukturelle Ursache dafür, dass die Krisenbewältigung in Europa so schwer fällt – oder anders gesagt: warum die europäischen Staaten mit der großspurigen Rettung strauchelnder Banken überfordert waren. Dass diese Ursachen nicht angesprochen werden, dass die Krise weiterhin als kurzfristiges, von außen verursachtes Hoppala verharmlost wird, nährt das Misstrauen gegenüber dem Krisenmanagement der europäischen PolitikerInnen.
Die Debatte um die Euro-Krise geht weiter und wiederholt die Dramaturgie Kriseneskalation – Erwarten eines Ereignisses – Beruhigung – neuerliche Eskalation.
Nach dem „beruhigenden“ zweiten Wahlgang in Griechenland und verunsichernden neuerlichen Bankenkrisen, erzeugt wieder einmal ein EU-Gipfel Optimismus. Ist die direkte Finanzierung von Banken nun die Lösung? Nach kurzer Erleichterung machen neue Sorgen die Runde.
Über die eigentlichen Gründe wird wenig geredet, zumindest nicht in den politischen Debatten.
Aktuell wird als Lösung erhofft: die Versöhnung von Merkel’schem Sparkurs mit Holland’schem Wachstumskurs. Aber das ist ein irreführender, ein nur scheinbarer politischer Gegensatz: Es geht gar nicht um die Frage, ob Staaten sparen oder wachstumsfördernd finanzieren sollen, sondern darum, was – ökonomisch – sinnvoll und was sinnlos ist. Wir gehen immer noch von der Illusion eines selbstverständlichen kräftigen Wachstums aus – 4% Wachstum sind quasi normal, ist es mal weniger ist, muss nur ein bisserl angestupst werden, dann springt’s gleich wieder an. Das ist Geschichte, die Gegenwart und Zukunft europäischer Volkswirtschaften ist eine der milden und durchschnittlichen Stagnation. Erst wenn die Politik sich dieser Realität annähert, kann sie wieder gestalten.
Die Opposition Sparen <-> Wachstum ist eine politische Platitüde, hinter der sich die politischen Lager sammeln und das Fehlen politischer Gestaltungsfähigkeit verstecken. Die Rechten rufen „Sparen“, die „Linken“ rufen „Wachstum“. Aber warum ist das ein Gegensatz?
Staatliche Ausgaben haben nur dann einen Wachstumseffekt, wenn sie Investitionen sind, also eine künftige Ertragssteigerung bringen.
Umgekehrt saniert Sparen die Staatsfinanzen nur dann, wenn damit künftiges Wachstum nicht eingeschränkt wird – also Investitionen nicht gekürzt werden.
Es ist also ganz einfach: weder saniert Sparen die Staatsfinanzen, noch erzeugen staatliche Ausgaben Wachstum. Es ist immer die Frage: Was wird gespart, was wird gezahlt?
Die einzige Frage, die uns bewegen sollte ist: Was sind Investitionen? Was macht ökonomischen Sinn? Und vor allem: was macht keinen Sinn?
Das ist eine Frage der Erkenntnis und der politischen Gestaltung. Angesichts dessen, was in der EU unter Investitionsförderung und vor allem an Krisenintervention seit 2008 betrieben wurde, scheint es an beidem zu mangeln (Stichwort: „Abwrackprämie“)
Aber: Ist Wachstum überhaupt noch möglich?
Die Ursachen der Krise sind zwar jeweils spezifisch, aber gleichzeitig in ganz Europa ähnlich: Strukturell handelt es sich um eine Alterung der Gesellschaften in jeder, auch politischer, Hinsicht.
Eine ernüchternde Zahl: In dem Jahrzehnt (2001-2011) seit Einführung des Euro ist die Wirtschaft um durchschnittlich nur 1,1% gewachsen – 1,1%! Das ist, unter Berücksichtigung statistischer Unschärfen, praktisch nicht wahrnehmbar. Ja, klar, es gab die Krise 2008 und den folgenden Wachstumseinbruch 2009 – aber müssten das nicht die Boomjahre davor mehr als aufwiegen? Was ist aus den großen Erwartungen an Vereinfachung der Handelsbeziehung, Integration und Wachstumsschub geworden? Nichts. Woran liegt das?
In Irland und Spanien gab es Immobilienbooms, deren Kollaps die jetzige Banken- und damit Staatshaushaltskrisen verursacht. D.h. das Wachstum der ersten Jahre entstand aus der künstlichen Aufblähung einer Branche, deren Rückschrumpfung nun als Krise erlebt wird.
In Portugal wurden sinnlose Infrastrukturprojekte finanziert – Autobahnen, die nichts mit nichts verbinden und daher keinerlei nützlichen Effekt haben. Griechenland verfiel einem sowohl staatlichen als auch privaten kreditfinanzierten Konsumrausch, der Kater ist ohrenbetäubend.
Es war in Südeuropa politisches Versagen, die niedrigen Zinsen, den Wegfall von Handelsbarrieren und die Subventionen der EU nicht für langfristig nützliche Investitionen einzusetzen, sondern für Scheininvestitionen und Konsum zu vergeuden.
Dass es auch anders geht, zeigen jene Länder, die in diesem Jahrzehnt trotz Krise starkes Wachstum verzeichneten: die baltischen Staaten, Polen …
Das politische Versagen war sowohl national als auch supranational – die absurd nutzlosen Infrastrukturprojekte sind ja Lieblingsförderungen der EU.
Angesichts der schlechten politischen Geld-Entscheidungen (hinsichtlich nachhaltigem Wachstum) sowohl in den guten wie auch den schlechten Jahren ist es mehr als fragwürdig, wenn jetzt ernsthaft erwartet wird, Wachstum würde allein deshalb entstehen, weil Politiker wieder Geld ausgeben.
Wenn jetzt für „Wachstumsimpulse“ wieder höhere Staatsschulden erlaubt werden, wird dies nicht ein Auftrag sein, um Bildung, Integration von Immigranten, innereuropäische Mobilität und Alternativenergie zu fördern (um ein paar der wachstumsfördernden Bereiche zu erwähnen), sondern als Freibrief dafür, Klientelwünsche zu befriedigen: Erhöhung von Pensionen, Gefälligkeitsaufträge für die Bauwirtschaft, etc.
Aber das politische Versagen, in dem vergangenen Jahrzehnt Geld nicht für sinnvolle Investitionen ausgegeben zu haben, ist nicht als individuelles Scheitern einzelner Regierungen oder Staaten zu verstehen, sondern als strukturelles Problem.
Alternde Gesellschaften erzeugen nicht nur ermüdete Volkswirtschaften, sondern auch ermattete politische Systeme. Die europäischen Staaten sind von Anspruchspolitik beherrscht; statt politischer Gestaltung gibt es hinhaltende Anspruchsbefriedigung – und die entsprechenden politischen Karrieren.
Und das ist die gesellschaftliche Ursache ökonomisch schlechter politischer Entscheidungen: Wenn alle glauben, dass Wachstum selbstverständlich ist, bleiben die Erwartungen an ständig wachsende Einkommen und Wohlstand permanent hoch; die, die ihre Interessen gut organisiert haben, können diese Erwartung dann auch erfüllen (man denke etwa an die erstaunliche Erhöhung von Pensionen und Beamtengehältern mitten in der Rezession!); jene, die nicht gut organisiert sind, müssen ihre wahrnehmbaren Einbußen als individuelles Versagen begreifen.
Der insgesamt wahrgenommene, scheinbare Wohlstandsgewinn im letzten Jahrzehnt entpuppt sich statistisch dann als große Umverteilung: von denen unten zu denen oben, von den mittleren Einkommen zu den Spitzeneinkommen, von den ungeschützten Bereichen (neue Selbstständige, Teilzeitarbeitskräfte) zu den (gewerkschaftlich gut vertretenen) geschützten Bereichen (Industrie, Beamten); von den schlecht lobbyierenden Segmenten (Handel, Gewerbe) zu den stark lobbyierenden (Banken, Automobil, Energie), von kleinen Betrieben zu großen Betrieben. Und so ähnlich funktioniert das nicht nur innerhalb der Volkswirtschaften, sondern auch zwischen ihnen, in der großen Umverteilung von Süd nach Nord.
Des Pudels Kern ist also:
Im letzten Jahrzehnt hat es im Euroraum kein nennenswertes Wachstum gegeben.
Das hat strukturelle Gründe, die auch das individuelle politische Versagen erklären.
Statt uns weiterhin Illusionen der Problemlösung hinzugeben, sollten wir der grundlegenden Wahrheit ins Auge sehen: Es gibt kein Wachstum mehr – zumindest nicht ohne grundlegende Änderungen der Volkswirtschaften und der Politik.
Die Illusion, dass kräftiges Wachstum eine Selbstverständlichkeit, ja, ein Anspruch sei, bedingt die Schamlosigkeit des Anspruchsdenkens. Diese Illusion zugunsten der Einsicht aufzugeben, dass es immer nur um Verteilung geht, könnte zu einer Wiederbelebung von Politik führen – Politik als Versuch, die Zukunft zu gestalten.